„Entspannung ist der Königsweg zum Schlaf“ – Interview mit Schlafforscher Dr. Hans-Günter Weeß

Dr. phil. Dipl.-Psych. Hans-Günter Weeß, Psychotherapeut und Somnologe, setzt sich in seinem Buch „Schlaf wirkt Wunder – Alles über das wichtigste Drittel unseres Lebens“ verständlich und anschaulich mit dem Thema Schlaf auseinander. Die Koryphäe der Schlafforschung leitet das Schlafzentrum des Pfalzklinikums Klingenmünster und lehrt an der Universität Koblenz-Landau.

Im Rahmen der Schlafserie auf Lebensflow habe ich ein Interview mit dem Schlafexperten geführt. Es bietet einen schönen Überblick über das Thema.


Warum verdient der Schlaf die Bezeichnung Wundermittel?

Weil der Schlaf das wichtigste Regenerations- und Reparaturprogramm des Menschen ist und tatsächlich in vielen Lebenslagen auch die beste Medizin. Es ist nicht so, dass während des Schlafens in unserem Körper alle Systeme runterfahren, sondern der Schlaf ist ein hochaktiver biologischer Prozess. Es finden wichtige regenerative Prozesse auf Zellebene, wie Zellteilung und Energieeinlagerungsprozesse statt. Dafür ist unter anderem auch das Wachstumshormon verantwortlich.

Schlaf ist zudem ein Gedächtnisbooster, da er für Lern- und Gedächtnisprozesse wichtige Funktionen hat. Wenn wir nicht essen, wenn wir nicht trinken, wenn wir nicht schlafen werden wir sterben. Und wir schätzen den Schlaf viel zu wenig. Wir bräuchten eigentlich eine neue Schlafkultur in unserem Land. 


Wie könnten wir diese Schlafkultur anstoßen?

Mein Buch ist schon ein Versuch, weil ich darauf aufmerksam machen möchte, dass Schlaf wirklich Wunder wirkt und dass er eben etwas ganz Besonderes ist. Wir schlafen ja nicht ohne Grund ein Drittel unseres Lebens. Wäre das ein sinnloser Zustand oder eine sinnlose Einrichtung der Natur – so wie es uns vielleicht manchmal die Wirtschaft vorgeben will nach dem Motto: Wir liegen sinnlos und unproduktiv in unseren Betten rum –, hätte ihn die Natur schon längst abgeschafft.

Aufklärung über den Sinn und Zweck des menschlichen Schlafes kann dazu beitragen, dass wir den Schlaf wieder mehr schätzen. Ich freue mich, dass in den letzten ein bis zwei Jahren das Thema Schlaf und Schlafstörungen mehr Interesse in der Öffentlichkeit gefunden hat.


Wann gilt ein Mensch Ihrer Definition nach als „schlafgesund“?

Wir sind dann schlafgesund, wenn wir uns am Tage ausgeschlafen, fit, leistungsfähig und emotional stabil fühlen – egal, wie viel wir nachts geschlafen haben. 


Ab wann kann man von einer Schlafstörung sprechen?

Grundsätzlich ist zu beachten: Vorübergehende Schlafprobleme, etwa in krisenhaften Lebenssituationen, gehören ein stückweit zum Leben dazu und sind nicht ungewöhnlich. Für die Diagnosestellung ist es wichtig, dass neben Ein- oder Durchschlafproblemen in der Nacht auch Beeinträchtigungen im Leistungsvermögen und Befinden am Tage auftreten. Wenn das dreimal pro Woche über einen Zeitraum von länger als vier Wochen auftritt, dann sprechen wir von einer leichten behandlungsbedürftigen Schlafstörung.

Wir haben in Deutschland sechs Prozent behandlungsbedürftige Ein- und Durchschlafstörungen und insofern ist die Insomnie eine Volkskrankheit, aber es gibt sicherlich nochmal etwa 20 bis 30 Prozent, die einen fragilen, leicht störbaren Schlaf haben, d. h. gelegentlich schlecht schlafen.


Die Statistik sagt ja, dass in den letzten Jahren in Deutschland die Zahl der Menschen mit Schlafstörungen steigen würde. Ist tatsächlich eine Zunahme von Schlafstörungen zu verzeichnen?

Das ist schwer zu sagen, weil es tatsächlich an den entsprechenden wissenschaftlichen Längsschnittstudien fehlt. Laut Studien von Kostenträgern, die nicht immer die wissenschaftliche Definition einer Schlafstörung zugrundegelegt haben, deutet aber etwas darauf hin,  dass Schlafstörungen zunehmen könnten. Tatsächlich fördert unsere 24-Stunden-Non-Stopp-Gesellschaft Schlafstörungen.

Die Schichtarbeit, als Paradebeispiel für ein Leben rund um die Uhr, nimmt zu. Schichtarbeit und Probleme mit dem Schlaf sind für viele Schichtarbeiter wie Geschwister. Insofern ist es plausibel, dass Schlafstörungen zunehmen. Aber auch ein zunehmendes Bewusstsein in der Medizin für das Thema kann dazu beitragen, dass die Diagnose häufiger gestellt wird. Darüberhinaus nehmen Stress und Arbeitsverdichtungen am Arbeitsplatz zu – ein weiterer Faktor, warum Schlafstörungen zunehmen könnten. 


Sie haben schon Gründe für Schlafstörungen genannt: die Schichtarbeit bzw. überhaupt unsere aktuelle Arbeitsform. Welche Gründe sind bei Schlafstörungen noch häufig vertreten?

Schlafstörungen können mannigfaltiger Natur sein. Körperliche Erkrankungen, psychische Störungen und Nebenwirkungen von Medikamenten können weitere Ursachen sein. Es können aber auch Fehlverhaltensweisen sein, z. B. was die Abendgestaltung angeht: Ernährung, Alkoholkonsum, Schlaf vor dem Fernseher – ganz Deutschland kann ja vor dem Fernseher am besten schlafen, aber er gilt als Schlafkiller Nummer eins. Fernsehschlaf baut Schlafdruck ab und das anschließende Einschlafen im Bett fällt schwer. 

Eine wesentliche Ursache wird aber oft übersehen: Die Menschen verlernen immer mehr abzuschalten, sich zu entpflichten und ihr Gedankenkarussell in der Bettsituation abzustellen. Wenn wir allerdings die großen und kleinen Sorgen mit ins Bett nehmen, dann sind wir gedanklich und emotional angespannt. Anspannung ist in jeder Form der Feind des Schlafes. Nur wenn wir uns entspannt fühlen, kann der Schlaf von alleine kommen. 

© privat

Wie stehen Sie zu dem Thema Funk oder Elektrosmog? Sind das Störquellen für den Schlaf?

Wenn man sich Studien anschaut und auch wissenschaftliche Qualitätskriterien an diese Studien anlegt, gibt es so gut wie keine Studie, die darauf hindeutet, dass Elektrosmog, WLAN o. Ä. zu einer Störung des Schlafes beitragen. Oft gibt es aber emotional geführte  Diskussionen, welche Studien welche Qualitätskriterien aufweisen und welche Aussagekraft diese haben. Grundsätzlich kann ich bei meinen Patienten meistens andere, plausiblere Ursachen feststellen – wenn sie auch mit diesem Gefühl kommen, es könnten Elektrosmog oder Wasseradern sein. Da kann meine klinische Erfahrung oft auf anderem Weg helfen.

Trotzdem ist es sicherlich gut, wenn man nicht neben dem angeschalteten Handy auf dem Nachtisch schläft oder den Fernseher auf einem Meter Abstand hat. Ich würde da schon für eine gewisse Medien- und Gerätehygiene plädieren.


Was fördert guten Schlaf? Welche Tipps würden Sie geben?

Wege zu einem guten Schlaf zu finden ist für viele gar nicht so einfach. Wir bieten ambulant spezielle Kurse an. Die Menschen aus ganz Deutschland reisen zu uns, um in zwei Tagen wieder schlafen zu lernen. Vielen Teilnehmern an diesen Kursen können wir tatsächlich gut helfen. Für hartnäckige Fälle bieten wir stationäre Behandlungen an. Viele Patienten kommen am Abend und in der Nacht nicht zur Ruhe. Wollen wir dem Schlaf einen roten Teppich ausrollen, dann ist die Entspannung der Königsweg zum Schlaf. Dazu gehört auch, wieder einen unbedarften und unbeschwerten Umgang mit dem Schlaf zu erlernen. Wenn wir uns abends in unser Kissen kuscheln, uns schöne Gedanken machen, uns entpflichten von den großen und den kleinen Sorgen unseres Alltags, dann haben wir beste Chancen einzuschlafen.

Aber wehe, wir wollen einschlafen! Wer schlafen will, bleibt wach – oder frei nach Heinrich Heine: Denke ich an Schlaf in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht. Jeder kennt es mal – Schlafstörungen gehören vorübergehend zum Leben dazu – da liegt man im Bett und kämpft mit seinem Kissen und schiebt die Bettdecke hoch und runter und will unbedingt schlafen. Je mehr man es will, umso mehr spannt man sich an und umso schlafloser macht man sich. 

Aus schlafmedizinischer Sicht führen Tausend Wege nach Rom. Es gibt nicht das eine optimale Entspannungsverfahren, was für alle gilt. Unser Ansatz ist immer, dem Patienten so viele unterschiedliche Angebote wie möglich zu unterbreiten, sodass er sie kennenlernen und dann die für ihn sympathischste, beste und wirksamste Methode wählen und unter unserer Anleitung einüben kann. 


Ich erinnere mich an eine Aussage unserer Bundeskanzlerin. Einige andere Politiker haben es auch von sich behauptet: Sie kämen mit vier Stunden Schlaf pro Nacht aus. Ich weiß, es gibt tatsächlich Menschen, die mit sehr wenig Schlaf auskommen. Wenn das aber jemand in einer solch wichtigen Position von sich behauptet und es vielleicht gar nicht stimmt, welche Konsequenzen kann das für Politik und Wirtschaft haben?

Es ist die Frage: Sind diese vier Stunden deren natürliches, genetisches Schlafbedürfnis? Dann gehören diese Personen zu den Menschen, die aus genetischer Perspektive nicht mehr Schlaf benötigen. Möglicherweise sind Menschen mit einem geringen Schlafbedürfnis beruflich erfolgreicher, da sie mehr Zeit für den Beruf haben. Das wäre eine Interpretationsmöglichkeit, die sicherlich einen realistischen Hintergrund hat. Aber sehr häufig erlebt man es ja auch anders herum: dass sich die Menschen nicht genügend Zeit zum Schlafen nehmen und ihr genetisches Schlafbedürfnis nicht berücksichtigen. Sie bewegen sich in einem chronischen Schlafdefizit. Wenn man sich dann zum einen die körperlichen Konsequenzen des Schlafmangels vergegenwärtigt – ein geschwächtes Immunsystem, ein höheres Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Einschränkungen in der Fortpflanzungsfähigkeit und ein höheres Risiko für psychische Störungen –, dann ist der Schlafmangel kritisch zu sehen. Auch weil im Zustand des Schlafmangels oder der Übermüdung unsere Entscheidungsfähigkeit eingeschränkt ist und unsere ethisch-moralischen Grundsätze verblassen.

Da ist so manche nächtliche Entscheidung in Politik und Wirtschaft kritisch zu sehen. Kurt Beck hat in einem Beitrag des Spiegels sinngemäß einmal gefragt: „Was glauben Sie denn, wer sich nachts um drei Uhr durchsetzt? Der mit den besten Argumenten oder derjenige, der das bessere Stehvermögen hat?“. Ich denke, in dieser Aussage ist viel Wahres.


Nun wissen Sie ja so viel mehr über Schlaf als der Ottonormalbürger. Welche Schlafkultur pflegen Sie selbst?

Ich bin eine Eule und habe Gott sei Dank einen Beruf, bei dem ich nicht morgens um sechs Uhr oder um sieben Uhr auf der Arbeit sein muss. Und ich bin natürlich auch jemand, der weiß wie’s geht, wie man’s machen muss, damit man gut schläft. Deshalb schlafe ich in aller Regel gut. Aber es ist schon so, dass – wie ich es angedeutet habe – ein schlechter Schlaf bei krisenhaften Lebenssituationen dazu gehört und man ein paar Nächte auch einmal schlechter schläft. Das lässt mich dann auch nicht verzweifeln. Ein paar Nächte mit weniger Schlaf kann unser Körper kompensieren. In der Steinzeit mussten wir ja auch mal nachts flüchten. Eine gewisse Flexibilität hat der menschliche Organismus, um kurzfristig mit Schlafmangel auszukommen. Problematisch wird es immer dann, wenn es ein dauerhafter Zustand wird.


Vielen Dank für das Interview!


Dieser Blogpost ist Teil der Artikelserie zum Thema Schlaf. Die Serie beleuchtet unterschiedliche Facetten des Themas und liefert Tipps und Anregungen für einen guten Schlaf – ganz im Sinne der Lebensfreude. Hast du einen speziellen Schwerpunkt auf dem Herzen was das Thema Schlaf angeht? Lass es mich wissen – vielleicht kann ich den Ansatz in einem der folgenden Artikel aufgreifen.

Im Rahmen der Schlafserie sind bereits folgende Artikel erschienen:
# Unser Schlaf: Ist er gesund oder gestört?
# Wunder Schlaf (* Buchtipp)
# Gute Nacht! Entspannt schlafen mit Yin Yoga

(Beitragsbild: © unsplash.com | Nine Köpfer)




Anstehende Veranstaltungen:

# WONNEVOLL: Yoga-Tagesretreat auf dem Sonnenhof (13.5. | Runkel)
# Yoga auf dem Steg: Sommer 2023
(Schiersteiner Hafen, Wiesbaden)
# Mama-Kind-Auszeit: Yoga für die Mamas & kreatives Malen für die Kids (4.6. | Wiesbaden)
# Deepen your practice: Thai Yoga-Absolvententag (16.7. | Büttelborn)

# Relax & Release: ein Tag für dich (10.9. | Büttelborn)